Aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammt das Bild der Geburt Christi, das eindrucksvoll die Weihnachtsgeschichte nachzeichnet. Die Engel verkünden die Geburt des Heilands und die Hirten machen sich auf nach Bethlehem, um dort den zu sehen, den wir als Gottes Sohn bekennen. Von ihm sagt der Philipperhymnus:
„Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen“ (Phil 2,5-7).
Viele würden sich in diesen Tagen und Wochen gerne aufmachen und nach Bethlehem gehen, aber die weltweite Pandemie macht das unmöglich. So müssen wir das Kind an anderen Orten suchen, und wir dürfen sicher sein: Christus lässt sich auch heute finden – und er leuchtet auf, überall wo Menschen einander in Liebe begegnen.
Auch auf unserem Bild finden wir das Kind. Es liegt am unteren Rand des Bildes – letzte Entäußerung. Und es liegt vor der Krippe, die die Gestalt eines Grabes oder Sarkophages hat und damit zu einem Hinweis auf das Leiden und Sterben Jesu wird. Die Botschaft des Bildes ist also: Man kann nicht Weihnachten feiern, ohne auch an das Ende zu denken. Das Kind in der Krippe wird am Kreuz enden. Krippe und Kreuz, so sagt es ein geprägtes Wort, sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Das Krippenkind ist der Kreuzesmann. So endet der Hymnus aus dem Philipperbrief auch nicht bei der Menschwerdung, sondern fährt fort:
„er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).
Genau das deutet unser Bild bereits an, wenn die Krippe zum Grab wird: Das Kind, das Maria und Josef jetzt anbeten, und dessen Geburt wir feiern, ist derselbe, der am Ende nach menschlichen Maßstäben scheitert und schmählich am Kreuz endet.
Doch wenn das Grab das Ende wäre, würden wir nicht Weihnachten feiern. Es ist deshalb kein Zufall, dass das Kind nicht in der Krippe liegt, besser gesagt: dass das Kind nicht mehr in der Krippe liegt. Die leere Krippe wird zum Bild für das leere Grab. Das Grab selbst, der Sarkophag ist zersprungen, mühsam durch zwei Klammern nur zusammengehalten.
So brutal die erste Brechung ist, neben das neugeborene Kind gleich den Sarg, den Sarkophag, das Grab zu stellen – so tröstend ist doch die zweite Brechung unseres Bildes: Das Grab ist nicht das verschlossene Grab, das versiegelte Grab, in dem die sterblichen Überreste der Menschen ihre letzte Ruhestatt finden. Das Grab ist das aufgesprengte Grab, das leere Grab, denn der Kreuzesmann wird nicht im Grab bleiben, sondern zu einem neuen Leben auferstehen. Auch das leere Grab greift der Philipperhymnus auf, wenn der Apostel dort nach dem Tod am Kreuz von Jesus sagt:
„Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle, im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes des Vaters.“ (Phil 2,9-11)
Nur zehn Kilometer liegen zwischen der Geburtskirche in Bethlehem und der Grabeskirche in Jerusalem. Aber hier in Bethlehem beginnt der Lebensweg Jesu, den weder die Hirten noch Maria und Josef jetzt schon kennen können. Doch in der Unscheinbarkeit der Geburt dieses Kindes beginnt die Unfassbarkeit des göttlichen Heils.
Ich wünsche uns allen, dass der Blick auf das Kind von Bethlehem unsere Hoffnung nährt, dass Gott Heil schaffen kann, unser Heil will und uns retten wird. Denn auch wenn wir noch nicht erkennen, wo das Neue schon beginnt – auch wenn uns die Entbehrungen und Enttäuschungen, die Ängste und Nöte des Alltags und der Gegenwart ganz in Bann schlagen, ist Gottes Liebe schon am Werk. Und das dürfen wir feiern.
Cfr. Prof. Dr. Winfried Haunerland, München